Erwachsene erziehen geht gar nicht

Beitrag aus dem NRD-Blog vom 10.08.1017

Seit gut drei Jahren besteht das Wohnangebot der NRD in Lampertheim. Im Oktober 2014 zogen die ersten Bewohner ein. Alles war neu: die drei Wohnhäuser; die Bewohner, viele haben zuvor bei ihren Familien gewohnt; das Team, die meisten sind neu in der NRD gestartet. Lampertheim ist ein bemerkenswertes Projekt.

16 Männer und Frauen, fast alle noch jung, wohnen in kleinen Wohngemeinschaften und einem Einzimmerapartment, im Zentrum der Kleinstadt. Junge Menschen, für die das Leben ohne Eltern noch neu ist. „Sie brauchen viele klare Regeln“, sagt Teamleiterin Nina Wurzrainer, die Lampertheim aufgebaut hat.

Zu Beginn war es wichtig, dass alle zueinander finden, Bewohner und Team. Viele Aktivitäten fanden wohnungsübergreifend für alle statt. Oft wurde in der großen Küche im Gemeinschaftsraum gekocht und gemeinsam gegessen. Jetzt geht es darum, die Betreuung individuell und von den einzelnen Wohnungen aus zu gestalten. Denn ein Ziel der Betreuung besteht darin, die einzelnen Bewohner darin zu stärken, ein möglichst normales Leben zu leben. Und das heißt, in einer möglichst normalen Wohnsituation – in der 2er- oder 3er WG – den Alltag möglichst eigenständig zu gestalten. Das ist für Nina Wurzrainer die Kernaufgabe der Betreuung. Jetzt arbeitet sie daran, die Betreuung konzeptionell auszurichten.

Aufräumen, Mama kommt!

Was das heißt? Folgende Situation ist beispielhaft. Eine Mitarbeiterin sagt: „Ich habe die Wohnung von N.N. nochmal sauber gemacht, weil ja heute seine Mutter kommt.“ Dahinter steckt die Befürchtung, die Mutter des Bewohners könne ihren Sohn hier schlecht aufgehoben sehen, weil ja die Wohnung nicht ordentlich aussieht. Tatsächlich müssen alle Beteiligten, auch die Angehörigen und Betreuer lernen, dass die Entscheidung darüber, ob Wohnung oder Zimmer aufgeräumt sind, beim Bewohner selbst liegt. Denn der ist ein erwachsener Mensch.

Erwachsene erziehen geht nicht
 

Die Bewohner zu Freiheit und Eigenverantwortung leiten, dazu braucht es pädagogische Konzepte und planvolles Handeln. Und eine Haltung auf Augenhöhe mit dem Klienten. Die pädagogische Arbeit besteht mitunter im Austarieren zwischen erziehen und unterstützen. So wenig Erziehung wie möglich, aber so viel wie nötig. Denn natürlich ist es wichtig zu lernen, wie die Waschmaschine ausgeräumt und die Wäsche auf die Leine gehängt wird. Und es wäre doch schön, wenn der Bewohner die Handlungssicherheit hat, dass er zum Kühlschrank geht, wenn er Hunger hat und nicht wartet, bis die Betreuerin ihm etwas auf den Tisch stellt – so wie er es im Elternhaus gelernt hat. Das Team muss auch lernen, die Bewohner in Ruhe zu lassen, wenn diese etwas nicht wollen, was der Betreuende für wichtig hält. Wenn zum Beispiel ein Klient heute keine Wäsche waschen oder nicht einkaufen gehen will. Dann ist das so. Denn es ist die persönliche Entscheidung eines erwachsenen Menschen. Die Grenze sieht Nina Wurzrainer dann, wenn Verwahrlosung oder andere Gefahren für den Betreffenden drohen.

Die Betreuer haben hier auch eine Anwaltfunktion für den Betreuten. Sie benötigen Durchsetzungskraft, um eine Entscheidung des Klienten auch einmal gegenüber dessen Eltern zu verteidigen. Elternarbeit ist wichtig geworden. Die Eltern der Lampertheimer Bewohner wollen wissen, was mit ihren Kindern geschieht. Sie wollen mitentscheiden.

Erwachsene erziehen, geht nicht 2

Grenzen achten

Die Mitarbeiter müssen darauf achten, sich nicht zu sehr in das Leben der Betreuten einmischen. Denn sie betreuen erwachsene Menschen, keine Kinder. Der Bewohner muss selbst entscheiden dürfen, wofür er sein Geld ausgibt. Auch wenn jemand sich piercen lassen möchte, muss das möglich sein, sagt Nina Wurzrainer. Das erfordert natürlich, dass sich der Mitarbeiter mit den gesetzlichen Betreuern des Bewohners abstimmt. Aber sie findet, dass die Betreuer sich hier für die Interessen des Bewohners stark machen und seine Entscheidungsfreiheit verteidigen müssen.

Es gibt viele Themen, die mit 16 Bewohnern im Lampertheimer Falterweg zu regeln sind. Die meisten davon haben nichts mit Behinderung oder Nichtbehinderung zu tun. Es sind Regelungen für das Zusammenleben. Die Klienten lernen sehr viel unter- und voneinander. Nina Wurzrainer berichtet von einem Klienten, der etwas später einzog. Die Mutter wies darauf hin, dass der junge Mann, der zuvor noch im Elternhaus lebte, es nicht kannte, sich alleine zu waschen und anzuziehen und dass er auch künftig hierfür Unterstützung benötige. Nina Wurzrainer sagt, dass sie dies im Team gegenüber dem neuen Bewohner überhaupt nicht thematisierten, sondern der Sache ihren Lauf ließen. Und siehe: vom ersten Tag an erledigte der junge Mann Waschen und Anziehen ganz selbstverständlich von alleine.

Dieses grundsätzliche Verständnis von Betreuung, die Klärung, was das hehre Ziel der Sozialraumorientierung im Betreuungsalltag bedeutet, dass muss im Team zunächst einmal ankommen. Was in den Augen von Nina Wurzrainer fehlt, ist eine grundlegende Schulung zur Pädagogik in der NRD und zum Thema Haltung. Wären diese Themen Bestandteile des NRDweiten Schulungsprogramms, wären die Teams vor Ort deutlich entlastet. Das käme den Bewohnern zugute.

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